Interview mit Yvonne Hofstetter. In: Deutsche Verkehrszeitung 10. Dezember 2015. Interviewer: Claudius Semmann
Frau Hofstetter, wie Sie vielleicht sehen können, habe ich mir den Kopf gestoßen. Ich musste sofort an unser Gespräch denken.
Das hat was mit Digitalisierung zu tun?
Bei dem Thema ist doch alles denkbar. Jedenfalls hätte ich gern einen digitalen Assistenten zur Seite gehabt, der über die Fähigkeit verfügt, auf Basis von Predictive Analytics bestimmte Ereignisse vorherzusagen. Dann hätte er mich eventuell warnen können. Sie warnen in Ihrem Buch „Sie wissen alles“ eindringlich vor den intelligenten Maschinen, die mehr und mehr in unser Leben eindringen. Warum sind Sie so misstrauisch?
Digitale Assistenten sind in der Tat der nächste große Trend. Im Business-Bereich, speziell im Finanzsektor, gibt es sie sogar schon. Aber für Sie persönlich gäbe es große Nachteile. Denn solch ein Assistent, der Sie durch den Tag bringt, wird Sie sehr gut kennen. Zudem gibt er Ihnen Ratschläge. Und glauben Sie mir: Sie werden auf den Assistenten hören, weil er die besseren Entscheidungen trifft. Damit würden Sie also Ihre Souveränität ein Stück weit an diese Maschine abgeben. Das bedeutet aber auch, dass Menschen bestimmte Fähigkeiten verlieren werden. Einfaches Beispiel ist das Navigationsgerät im Auto. Viele Menschen können heute keine Karte mehr lesen.
Werden diese intelligenten Maschinen künftig auch bestimmte Entscheider in Unternehmen ersetzen?
Ja, natürlich. Und nicht nur das: Eine Folge der Digitalisierung wird sein, dass einige Berufe nicht mehr existieren werden. Es gibt hier Warnungen von Deutsche Bank Research, von der Oxford University oder vom MIT sowie der Gewerkschaften. Demnach wird etwa die Hälfte aller Berufsbilder wegfallen in den nächsten 15 bis 20 Jahren. Dazu wird übrigens mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit der Versanddisponent gehören. Es wird aber auch bei Berufen der höher gebildeten Mittelschicht ein hohes Maß an Automatisierung geben, vor allem im Dienstleistungssektor. Hinter all dem steckt der Einsatz künstlicher Intelligenz.
Zu was ist diese fähig?
Wir bekommen es hier mit einer ganz anderen Qualität von Maschinen zu tun. Diese können lesen, sprechen, uns verstehen, übersetzen, schreiben, Entscheidungen treffen – und das alles völlig autonom.
Trotz all der Warnungen und Nachteile: Die Digitalisierung gilt als Basis der vierten industriellen Revolution, speziell in Deutschland bekannt als Industrie 4.0. Diese verspricht eine enorme Effizienzsteigerung. Allein durch Big Data könnten Experten zufolge in Deutschland Milliarden von Euro in der Wirtschaft eingespart werden. Bitte klären Sie uns endlich auf: Was ist Big Data wirklich?
Zunächst ein Marketingbegriff. Der Ursprung liegt im Militärischen. Dort sagt man dazu Multisensor-Datenfusion. Dabei geht es um drei Stufen. Zunächst erfassen Sensoren Daten, die gesammelt und gesäubert werden. Auf diese Basis setzt dann eine künstliche Intelligenz auf. Diese lernende Maschine analysiert die Daten und klassifiziert sie dann zum Beispiel. Hier werden also schon relevante Informationen abgeleitet. In Stufe drei wird eine sogenannte Kontrollstrategie berechnet, um zum Beispiel einer klassifizierten Person einen Stimulus zu geben, sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten. Schließlich wird das Verhalten überwacht, die gemessene Antwort geht wieder in die Kontrollstrategie, die dann einen erneuten Stimulus setzt, um ein entsprechendes Verhalten zu erreichen. Das Ganze ist Kybernetik, die Wissenschaft von Information und Kontrolle, wie es ihr Begründer, der US-Mathematiker Norbert Wiener, im 19. Jahrhundert ausgedrückt hat. Die Kybernetik ist bereits im Militär beim Wettrüsten eingesetzt worden.
Und nun setzen das Ganze auch Google & Co. ein.
Genau das ist das Problem, dass dieses Wissen jetzt auch bei kommerziellen Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon gelandet ist, die damit Menschen aussteuern. Wir wissen zum Beispiel, dass Google Wahlen entscheidet. Denn allein die Anordnung von Informationen kann Menschen beeinflussen. Die Maschinen, die diese Kontrollstrategien berechnen, unterscheiden nicht mehr, ob eine Anlage, ein Mensch oder gar eine ganze Gesellschaft gesteuert wird.
Aber in der Logistik, wo es rein um die Steuerung von Gütern und Objektdaten geht, bietet die Digitalisierung doch hauptsächlich Vorteile, oder?
Richtig, dort ist das kein Problem – wie auch in der Anlagensteuerung.
Und welches Potenzial hat die Digitalisierung hier?
Ich denke zum Beispiel an die schlecht ausgelasteten Transportkapazitäten. EU-Studien zufolge sind circa 30 Prozent der LKW-Fahrten auf der Autobahn Leerfahrten. Innerstädtisch verstopfen Transporter zudem oft die rechte Spur. Hier liegen die Leerfahrten bei circa 60 Prozent. Es gibt also riesige Ineffizienzen in den Systemen. Die Lieferketten der Logistikunternehmen sind heute einzeln betrachtet zwar durchoptimiert. Doch durch den E-Commerce zum Beispiel werden die Sendungen kleinteiliger. Darauf sind die Logistiker noch nicht eingestellt. Die Effizienz wird letztlich auf Lasten der Fahrer hergestellt.
Ein Ansatz, Leerfahrten zu vermeiden, wäre die Bündelung durch Kooperation.
Ja, doch der Wille zur Kooperation fehlt doch völlig. Ich weiß das, weil wir in Frankreich eng verbunden sind mit dem Unternehmen Urbismart, mit dem wir für Paris eine Art Shared-Truck-Plattform entwickelt haben, um Ladungen zu konsolidieren. Inzwischen sind es die Städte selbst, die eine Optimierung vorantreiben und daher den Plattformgedanken unterstützen, weil sie sich davon eine Verkehrs-, Lärm- und CO2-Reduzierung versprechen. In Paris gibt es jetzt ein Pilotprojekt.
Erklären Sie bitte kurz, um was für eine Plattform es sich handelt.
Die Vision der Stadt Paris lautet: Ein LKW, auf dem Ladungen konsolidiert sind, ver- und entsorgt eine Straße. Das ist natürlich ein Ideal, dass sich nicht erreichen lässt. Letztlich geht es aber um Bündelung. Und dafür benötigt man ein übergeordnetes Steuerungssystem, in das der Transportbedarf der Versender einfließt und dann automatisch an die entsprechende Flotte der Logistikunternehmen, mit denen die Plattform Verträge hat, verteilt wird.
Und was ist das Intelligente daran?
Es wird in Echtzeit geregelt, überwacht und nachgesteuert. Die Plattform verfügt beispielweise über eine Routenplanung, sie kommuniziert mit den Fahrern, teilt Pausen ein, Verkehrsstörungen werden sofort berücksichtigt. Es handelt sich also nicht mehr um ein Planungssystem, sondern ersetzt das, was wir seit Jahren als Supply Chain Event Management bezeichnen. Doch durch die Digitalisierung können wir heute einfach viel mehr Daten erfassen und unmittelbar auswerten. Alles wird zu einem Event. Es wird permanent überwacht, wo sich eine Sendung befindet, und es wird in Echtzeit umgesteuert. Das ist sehr komplex zu rechnen und funktioniert nicht mehr mit den klassischen, mathematischen Optimierungsverfahren. Dafür benötigt man künstliche Intelligenz. Nur die kann mit diesen vielen Daten in Echtzeit umgehen.
Ist die Plattform schon irgendwo in Betrieb?
Ja, in Bordeaux und nun ist eben Paris mit einem Piloten gestartet. Wir haben überall aus französischen Raum Anfragen. Dort ist das Interesse sehr hoch.
Und in Deutschland?
Zum einen läuft bei uns im Vergleich noch alles einigermaßen in geordneten Bahnen. In Frankreich sind die Probleme deutlich größer. Zum anderen sind die Franzosen viel offener für Innovationen. Frankreich hat uns in Sachen Digitalisierung längst etwas voraus. Das gilt übrigens auch für Italien. Bis vor zwei Jahren durfte man in Deutschland den Begriff künstliche Intelligenz nicht einmal erwähnen. Heute ist das Thema plötzlich ganz hip. Durch Google oder Amazon gibt es sogar einen regelrechten Hype. Die US-Konzerne investieren Milliarden von Dollar in künstliche Intelligenz.
Google hat gerade erst einen Anteil am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) erworben.
Richtig. Die US-Internetkonzerne nehmen uns auch unsere Fachkräfte weg. Google hat 2014 drei Firmen im Bereich künstliche Intelligenz übernommen, in zweien davon waren deutsche und europäische Forscher beteiligt. Wir haben hierzulande in Sachen lernende Maschinen eigentlich sehr viel Know-how. Das Wissen ist maßgeblich hier in Europa entwickelt worden und wird jetzt von den Amerikanern abgesaugt.
Bei den Firmen herrscht offenbar große Unwissenheit. Laut einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung kennen nur 18 Prozent von 4500 befragten Unternehmen den Begriff Industrie 4.0. Schlusslicht ist die Logistikbranche mit nur 6 Prozent.
Das wundert mich nicht. Viele Unternehmen und Menschen in Deutschland wissen mit dem Internet der Dinge, der Digitalisierung oder Industrie 4.0 nicht viel anzufangen. Hinzu kommt: Die Deutschen sind überhaupt nicht risikobereit. Viele wollen am liebsten gar nichts ändern. Bei meinen Vortragsreisen erlebe ich es oft, wie die über 55-Jährigen sagen: „Gott sei Dank bin ich schon so alt.“ Und bei den etwa 25-Jährigen wiederum ist der Kontrollwahn ausgebrochen. Die wollen absolute Transparenz und maximale Überwachung. Beide Haltungen finde ich erschreckend. Speziell die Jugendlichen dagegen sind bei der Digitalisierung sowohl neugierig als auch kritisch.
Sind die Amerikaner den Europäern in Sachen Digitalisierung uneinholbar voraus?
Für den Bereich der Endverbraucher würde ich das unterschreiben. Die Deutschen müssen sich auf ihre Stärken besinnen. Die liegen vor allem in der Produktionsgüterherstellung, trotz der inzwischen geringen Fertigungstiefe im Land. Es gilt also, digitale Kompetenz im B2B-Geschäft aufzubauen. Produktions-Know-how plus Beratungskompetenz sowie digitale Services – darin liegen die Chancen für Deutschland. Denn die Amerikaner verstehen Digitalisierung hauptsächlich als B2C-Geschäft. Die Ansätze im Consumer-Bereich brauchen wir nicht mehr kopieren.
Aber ein wenig könnten die Unternehmen schon von dem Innovationsgeist aus dem Silicon Valley übernehmen, oder?
Ja, auf jeden Fall. Man kann sich Anregungen holen, aber man muss für sich im eigenen Rechtskreis sowie Werte- und Verfassungsverständnis schauen, was einem die Digitalisierung bringt.
Inwieweit ist der digitale Wandel für Unternehmen existenzbedrohend?
Digitalisierung bedeutet, dass wir unser ganzes Leben in einen Computer verwandeln. Wir speichern, wir klassifizieren, wir prognostizieren, wir steuern – und das im geschlossenen Regelkreis der Kybernetik. Sobald wir in dieses Zeitalter eingetreten sind, werden die alten Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren. Wem es also nicht gelingt, sich neu zu erfinden, wird nicht überleben. Es geht darum, einen neuen Wert zu schaffen.
Es wird also wirklich nicht mehr reichen, einfach nur ein Auto herzustellen?
Nein, definitiv nicht.
Wie viele Kunden haben Sie mit Teramark eigentlich in Deutschland?
Derzeit habe ich eine Anfrage von einem großen Mittelständler für eine Anlagensteuerung. Mehr nicht.